Siegfried Balke als Seiteneinsteiger in die PolitikKapitalistische Zuckerwürfel, der Adenauer’sche Proporz und ein trauriger Pförtner

Kurzbeschreibung 

Der Post- und spätere Atomminister Siegfried Balke war in vielerlei Hinsicht ein typischer Seiteneinsteiger in die Politik.

Ein Protestant aus dem Ruhrgebiet, der nicht einmal ein Parteibuch besaß – diese Eigenschaften deuteten nicht gerade auf einen Mann hin, der im Dezember 1953 ausgerechnet auf dem Ticket der bayerischen, überwiegend katholischen CSU als Postminister in die Bundesregierung gelangen würde. Doch gerade weil damals ein solches Profil unter den Christlich-Sozialen so rar war, fügte sich Siegfried Balke geradezu perfekt in das komplizierte Proporzsystem Konrad Adenauers, mit dem der Bundeskanzler damals raffiniert unterschiedlichen Konfessionen, Regionen, Interessenverbänden und Koalitionspartnern zu personeller Repräsentanz in seinem Kabinett verhalf – und sich so ihre Unterstützung sicherte.

Darin, in der Integration von Differenz, bestand über viele Jahre die Kunst des Konrad Adenauer. Und Balke kam dem Kanzler nach den für die beiden Unionsparteien siegreichen Bundestagswahlen 1953 wie gerufen – denn plötzlich bedurfte es infolge einer Personalrochade dringend eines CSU-Kandidaten, der kein Katholik war, sondern in einer evangelischen Kirche über das Taufbecken gehalten worden war.

Für die Bonner Journalisten war der promovierte Chemiker Balke, der als Manager im Direktorium der Alexander-Wacker-Chemie zur bayerischen Wirtschaftselite zählte, ein waschechter Seiteneinsteiger und insofern eine kleine Sensation. Als ein solcher Exot bediente Balke die journalistische Lust am Spektakel – bot er doch eine willkommene Gelegenheit für etliche Porträts und Kommentare.

Balkes Weg vom Lobbyisten zum Politiker

Zwar hatte Balke in der Tat keine offizielle Parteikarriere bestritten, war nach Bonn nicht wie die meisten anderen Politiker:innen sukzessive über die „Ochsentour“ vom Ortsverein über die Bezirks- und Landesebene gelangt. Doch stand er der Politik, insbesondere der CSU, dennoch äußerst nahe. Denn als Vorsitzender des Vereins der Bayerischen Chemischen Industrie gehörte Balke zu den Cheflobbyisten des Freistaats. Zusammen mit Unternehmern wie dem Brillenfabrikanten Rolf Rodenstock sammelte er im bayerischen Arbeitgeberlager stattliche Geldsummen, die er auf diskreten Wegen den bürgerlichen Parteien zukommen ließ. Die Angst, Sozialdemokraten und Gewerkschaften könnten durch eine Mehrung ihrer politischen Macht die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung sabotieren, reichte bis zu der Idee, die Verpackungen von alltäglich konsumierten Produkten mit wirtschaftsliberalen Parolen zu bedrucken. Zu Zuckerwürfeln, die sich in Balkes Vorstellung in den bayerischen Haushalten gegen ihre Sozialisierung aussprachen, kam es dann allerdings doch nicht.

Und das musste es auch gar nicht, denn Balke und seine Mitstreiter fanden schnell andere Wege. Erst brachten sie die CSU, dann einzelne ihrer Spitzenpolitiker in ihre finanzielle Abhängigkeit.

1951 nahm sich Balke persönlich des jungen Franz Josef Strauß an, überwies ihm aus der Verbandskasse monatlich einen vierstelligen Geldbetrag, übertrug ihm die Einkünfte aus dem Verkauf einer Wirtschaftszeitung und finanzierte ihm in Bonn ein Büro. Und jedes Mal, wenn im Bundestag die Union zu weit von den Unternehmerinteressen abzuweichen drohte, wurde Balke bei dem CSU-Landesgruppenchef und stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Strauß vorstellig. In solchen Momenten wies er den späteren Parteichef, Kanzlerkandidaten und Ministerpräsidenten höflich auf die nächsten Wahlen hin – freilich nicht ohne die plötzlich schwindende Spendenbereitschaft bayerischer Unternehmen zu erwähnen.

Als im Winter 1953 unversehens ein Kabinettsposten frei wurde, erlagen die bayerischen Wirtschaftslobbyisten der Versuchung, einen eigenen Mann am Bonner Kabinettstisch zu platzieren – um eben nicht mehr in der Lobby auf einen freien Termin von Strauß, Erhard & Co. zu warten. Quasi Lobbyismus 2.0. Strauß, der Balke viele Wahlkampfgelder zu verdanken hatte, setzte den Manager kurzerhand in der Landesgruppe durch und machte ihn zum Minister.

Fortan war Balke, der keinerlei eigene Hausmacht hatte, allerdings seinerseits ein Protegé: Seine politische Macht war eng mit der seines nunmehrigen Polit-Mentors Strauß verbunden. Der zunehmend mächtiger werdende „FJS“ organisierte zusammen mit seinen Kompagnons die Mehrheiten für Balke, der solch urtümlich politischen Verfahren – Absprachen zu treffen, Netzwerke zu spinnen, auch Intrigen auszuhecken – nichts abgewinnen konnte. Balke begriff sich seinem Selbstverständnis nach als Wissenschaftler, Kaufmann oder auch Ingenieur, keineswegs aber als Politiker.

Siegfried Balke. Grenzgänger zwischen Wirtschaft und Politik in der Ära Adenauer

Der Bundespost- und spätere Atomminister Siegfried Balke gehört zwar nicht unbedingt zu den prominentesten Figuren der bundesrepublikanischen Politikgeschichte – doch ist sein Leben und Wirken ein aufschlussreiches Beispiel für den Grenzgang zwischen Politik und Wirtschaft.

Balke als typischer Seiteneinsteiger in die Politik

In seinen Jahren als Bundespost- (1953–56) und Atomminister (1956–62) plagte sich der ehemalige Betriebsdirektor, der straffe Hierarchien und eindeutige Entscheidungsbefugnisse gewohnt war, mit den Widrigkeiten des bundesdeutschen Föderalismus, unvollständigen Kompetenzen und den unablässigen Kompromisszwängen demokratischer Mehrheitsfindung herum. Am meisten störte ihn wohl die Tendenz der Politik, kurzfristigen Belangen oder sachfremden Erwägungen einen Vorrang gegenüber langfristig sinnvolleren und fachlich geboteneren Entscheidungen einzuräumen.

In dieser Haltung war Balke ein typischer Seiteneinsteiger. Wesentliche Charakteristika und Normen politischer Entscheidungen – die eben nicht immer der Sache, sondern auch dem Macht- und Statuserwerb verpflichtet sind – leuchteten ihm entweder nicht ein oder beschworen sogar seine Antipathie, vielleicht sogar innere Wut herauf.

Typisch für Seiteneinsteiger war auch die mangelnde Energie, die Balke auf eine kardinale Disziplin professioneller Politiker:innen verwendete: die Machtsicherung. Balke jettete in der Manier eines mondänen Globetrotters von Land zu Land, hielt im US-amerikanischen Postwesen Ausschau nach Innovationen für die angestaubte Bundespost oder inspizierte Atomkraftwerke in Großbritannien. Den Bürofluren des Bundestags oder konspirativen Kungelrunden aber blieb er fern.

Für seine politischen Karriere sollte dieses Desinteresse an machterhaltenden Maßnahmen schon bald verhängnisvolle Folgen haben. Denn so blieb sein politisches Schicksal stets mit dem seines Förderers Strauß verknüpft. Als dieser in der „Spiegel“-Affäre 1962 schließlich stürzte, fiel auch Balke. Im Moment von Strauß’ Schwäche versiegte Balkes politisch existenzielle Machtquelle. Die Ironie der Geschichte wollte, dass Balke nicht mehr Günstling, sondern Opfer des Adenauer’schen Konfessionsproporzes war. Das protestantische Kontingent von Kabinettsposten sicherten sich nun versierte Profi-Politiker. Balkes Gleichgültigkeit gegenüber politischer Machtsicherung war so groß, dass er dies alles nicht einmal bemerkte. Als er am Morgen des 11. Dezember 1962 wie gewohnt sein Ministerium betrat, erfuhr er das Ende seiner Ministerlaufbahn, als der Pförtner seinem hausintern beliebten Dienstherrn anlässlich dessen Entlassung kondolierte.

Solchermaßen gedemütigt, kehrte Balke der Politik verbittert den Rücken. Zwar blieb er Abgeordneter, doch ging er zurück in die Wirtschaft. Dennoch waren seine Ministerjahre für seine weitere Laufbahn nicht vergeblich. Balkes Exkursion in die Politik hatte sein Prestige beträchtlich gemehrt. Im Gegensatz zu seiner vorpolitischen Karriere in der bayerischen Wirtschaft hatte er sich in seinem beruflichen Herkunftsbereich nun auch für eine Spitzenposition auf Bundesebene qualifiziert.

Balkes Cross-over-Karriere

1964 avancierte er für fünf Jahre zum Präsidenten der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), in der man sich von dem Ex-Minister wohl einen privilegierten Kontakte zu Bonner Entscheidungsträgern versprach. Über den Umweg der Politik war der Grenzgänger Siegfried Balke in den Hierarchien der Wirtschaftsverbände aufgestiegen.

Doch steigerte seine seltene „Cross-over“-Karriere zwischen Politikern und Managern nicht unbedingt das wechselseitige Verständnis voneinander, die Empathie für die je unterschiedliche Rationalität. Im Gegenteil verstärkte sie sogar bestehende Stereotype und Ressentiments. Für Adenauer blieb Balke ein betriebswirtschaftlich rationaler Unternehmenslenker, dem jegliches Gespür für die feinsinnige Integration von disparaten Interessen abging; und für Balke war der „Alte“ aus Rhöndorf ein klassischer Politiker, der machtdienliche Maßnahmen gegenüber sachdienlichen Geboten favorisierte.

Dabei hätte Balke die Politik vielleicht stärker als eigenständiges System betrachten sollen, wie ihm dies als Naturwissenschaftler und Techniker eigentlich ja gelegen hätte. Insofern steht Siegfried Balke exemplarisch für etliche Seiteneinsteiger in die Politik, die zu sehr ihrem Herkunftsbereich verhaftet blieben und sich nicht angemessen auf ihre neue Umgebung einstellten. Einerseits. Andererseits bekleckerte sich auch die professionelle Politik im Umgang mit Balke nicht gerade mit Ruhm, da sie sich gegenüber Experten als verschlossen, hermetisch, erwies.