Das Mehrheitswahlrecht unterscheidet sich vom System der personalisierten Verhältniswahl, wie es hierzulande in der Bundesrepublik bei Parlamentswahlen gilt. Das bundesrepublikanische Wahlsystem ist eine Kombination aus Verhältnis- und Mehrheitswahl über Erst- und Zweitstimme. Dabei wird ein Teil der Abgeordneten per Erststimme direkt, ein anderer per Zweitstimme indirekt über Listen gewählt.
Anders das Mehrheitswahlrecht: Hier gewinnen stets die Kandidat:innen mit den meisten Stimmen, alle anderen gehen quasi leer aus, können nicht über alternative Wege wie eine Liste ins Parlament gelangen. Die Schärfe des Mehrheitswahlrechts lässt sich über die Form der notwendigen Mehrheit regulieren: Indem entweder eine absolute oder eine relative Mehrheit für den Mandatsgewinn nötig ist.
Vorteile des Mehrheitswahlrechts
Klare Machtverhältnisse
Das Mehrheitswahlrecht erstrebt eindeutige Machtverhältnisse. In dieser Vorstellung existieren im Parlament lediglich zwei starke Fraktionen, von denen eine über ausreichende Mandate zur alleinigen Regierungsbildung verfügt.
Dadurch entfallen Koalitionsverhandlungen und die damit verbundenen Herausforderungen. Dies könnte Folgendes bedeuten:
- Starke Handlungsfähigkeit: Eine Partei könnte ihre politische Programmatik ohne Rücksicht auf Koalitionskompromisse umsetzen.
- Stabilität: Regierungskrisen infolge koalitionsinterner Streitigkeiten ließen sich vermeiden.
- Demokratische Konsistenz: Parteien wären dann auch eher darauf verpflichtet, ihre Wahlversprechen einzulösen, da diese nicht durch eine kompromissbehaftete Koalitionsdisziplin verwässert würden.
- Demokratische Rechenschaft: Wähler:innen könnten ihre Unzufriedenheit mit der gouvernementalen Performanz für eine Abwahl nutzen, da sich abgestrafte Fraktionen nicht mehr durch taktisch versierte Koalitionsbildung an der Regierung halten könnten.
Verwirklichung des demokratischen Prinzips direkter Wahl
Eine mit dem Mehrheitswahlrecht verbundene Personalisierung der Wahl könnte verschiedene Folgen haben:
- Zwischen Gewähltem und Wählern entsteht aufgrund der unmittelbaren Beziehung eine engere Bindung; die Distanz zwischen Mandatsträger:in und Bürger:in wird verringert.
- Die Regierungsbildung wird direkt vom Wähler und nicht von Koalitionstaktiken bestimmt.
- Prioritätsverlagerung von der Partei auf den Wahlkreis, da der Abgeordnete nicht mehr primär von der Partei, sondern von Wähler:innen sanktioniert wird; die Interessen der Bürger:innen im Wahlkreis erfahren eine stärkere Berücksichtigung als die gesamtparteilichen – die öffentliche Reputation überwiegt in der Bedeutung die Stellung innerhalb der Partei.
- Die Bedürfnisse der Wähler:innen müssen bei der Kandidatenaufstellung von den Parteien antizipiert werden. Dies könnte in einer stärker an die Bürgerinteressen gebundene Kandidatennominierung, die nicht mehr von Parteikriterien dominiert wird, resultieren.
- Den Bürger:innen werden Abgeordnete nicht mehr durch eine starre Liste aufgezwungen, sondern sie können diese direkt erwählen. Durch die gesunkene Selektionsmacht einiger weniger Parteimitglieder ließe sich die fortschreitende Entfremdung zwischen Parteien und Wählern reduzieren.
- Öffnung der politischen Sphäre: Durch den Wegfall des Listensystems müsste man sich nicht mehr in der Partei – beispielsweise über eine langjährige „Ochsentour“ – verdient machen, sondern könnte als mehrheitsfähiger Kandidat umstandslos rekrutiert werden; das System würde sich so für dem Parteiengagement ferne Typen öffnen.
Keine unverhältnismäßige Bedeutung stimmenschwacher Parteien
Die klare Mehrheit einer einzelnen Fraktion verhindert, dass kleinere, für etwaige Koalitionen jedoch notwendige Abgeordnetengruppen die Entscheidungsmacht über die Regierungsbildung erlangen – ein demokratisch unverhältnismäßiger, durch das Wahlergebnis nicht gerechtfertigter Status ließe sich vermeiden.
Klare Zurechenbarkeit von Verantwortung
Politische Entscheidungen können eindeutig der Regierungsfraktion zugerechnet werden, sodass eine Verantwortungsdiffusion nicht mehr die Urheberschaft politischer Maßnahmen kaschiert.
Einzelne Abgeordnete bzw. die Partei können direkt für ihre politischen Entscheidungen vom Wähler am Ende einer Legislaturperiode sanktioniert werden.
Förderung politischer Mäßigung
Für einen Wahlsieg müssten Parteien um die Wähler in der gesellschaftlichen Mitte konkurrieren und entsprechend ihre politische Agenda dorthin ausrichten – eine programmatische Extremisierung würde verhindert werden.
Nachteile des Mehrheitswahlrechts
Diskrepanz zwischen Wählervotum und Mandatszuteilung
- Wählerstimmen gehen verloren bzw. werden entwertet.
- Die Mandatsverteilung kann den Gesamtstimmenverhältnissen drastisch widersprechen – die Minderheit wird majorisiert, falls die eigentliche Stimmenminderheit zur Parlamentsmehrheit gerät.
- Durch einen Verzerrungseffekt können bereits geringe Verschiebungen in den Wahlentscheidungen eine große Veränderung der Sitzverhältnisse bewirken.
- Wahlkreisgeografie: Die Problematik des Wahlkreiszuschnitts gefährdet das Prinzip gleichgewichtiger Stimmen.
Verengte Sicht des Parlaments
- Eine zu starke perspektivische Fixierung auf die Wahlkreisinteressen kann das Gemeinwohl aus dem Blickfeld geraten lassen.
- Abgeordnete, die einzelnen Wahlkreisen verpflichtet sind, können – ganz entgegen der Absicht des Systems, starke Mehrheiten zu befördern – den Partikularismus innerhalb eines Parlaments erhöhen.
Verödung der politischen Kultur und der Parteiorganisationen
In dauerhaft verlorenen Wahlkreisen erodiert das Engagement der unterlegenen Partei(en), während sich die andere in ihrer Hochburg in Ermangelung starker Herausforderer einrichtet.
Keine parlamentarische Repräsentation bestimmter Gruppen und politischer Meinungen
- Bestimmte, weniger wählerwirksame Personengruppen – strukturell benachteiligte Frauen, introvertierte Fachexperten etc. – gelangen nicht mehr ins Parlament.
- Bestimmte Regionen wären eventuell nicht mehr parlamentarisch vertreten.
- Mangels Proporzmöglichkeiten werden innerparteiliche Gruppen, auch gesellschaftliche Minoritäten nicht mehr parlamentarisch repräsentiert.
- Ein Zweiparteiensystem wäre zu einer sozial heterogenen Gesellschaft schwer kompatibel.
- Systemeigene Vetostrukturen wie der Föderalismus bleiben beim Versprechen der garantierten Regierungsfähigkeit unberücksichtigt.
- Historisch interessant: Politische Persönlichkeiten wie Ebert, Stresemann und Heuss kamen erst in Stichwahlen, per Nachrücken oder über die Liste ins Parlament und wären im reinen Mehrheitswahlrecht wahrscheinlich niemals Abgeordnete geworden.
Einschränkung der Wahlmöglichkeit
Die Wahrscheinlichkeit der vergeudeten Stimme für eine kleine Partei würde einen latenten Zwang zum Einparteiensystem entfalten; formale Optionen (andere Parteien zu wählen) würden entwertet werden.
Empirisch
In den USA gibt es eine extrem hohe Wiederwahlquote, da sich ein einmaliger Mandatsgewinn häufig in eine Serie kontinuierlicher Wiederwahl umsetzt.
In Großbritannien gab es trotz Mehrheitswahlrechts auch schon eine Minderheitsregierung; außerdem attestiert man den Mehrheitswahlrechtssystemen Großbritannien, Kanada und Australien ebenfalls eine Krise.
Epilog
Die Entscheidung für ein spezifisches Wahlsystem ist letztlich eine Wertfrage nach der Gewichtung seiner Funktionen: Repräsentation (Vertretung aller gesellschaftlicher Gruppen und politischer Meinungen sowie Proportionalität von Stimmen und Mandaten), Effizienz (schnelle und unkomplizierte Regierungsbildung sowie Regierungsfähigkeit) und Verantwortlichkeit.
Und sie ist eine Frage nach dem Grad an gewünschter Pluralität: Will man ein bipolares Zwei- oder ein gesellschaftliche Heterogenität berücksichtigendes Mehrparteiensystem?
Dieser Text wurde im Februar 2008 verfasst.
Konsultierte Literatur
- Arnim, Hans Herbert von: Wahl ohne Auswahl, in: Die Welt, 21.08.2002.
- Dahrendorf, Ralf: Auf den Wähler kommt es an, in: Die Zeit, 34/1988.
- Hartmann, G. B. von: Für und wider das Mehrheitswahlrecht, Frankfurt am Main 1950.
- Hermens, Ferdinand Aloys: Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht?, Berlin 1949.
- Nohlen, Dieter: Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 2000.
- Rollmann, Dietrich: Wider das Mehrheitswahlrecht, in: Die Zeit, 32/1965.
- Uexküll, Gösta von: Das rechte Wahlrecht wählen, in: Die Zeit, 45/1955.
- Wocker, Karl-Heinz: Wilson wagt das große Spiel, in: Die Zeit, 11/1974.