Politik und PositionierungWas Volksparteien vom Marketing lernen können

Kurzbeschreibung 

Wenn (Volks-)Parteien nicht mehr über Normen und organisierte Strukturen Wähler:innen gewinnen, dann benötigen sie eine „spitze“ Positionierung – wie Marketing zur Stabilisierung der Demokratie beitragen kann.

Positionierung ist ein Begriff, der im Marketing eine große Rolle spielt. Allerdings lässt er sich mit erheblichem Erkenntnisgewinn auch auf die Politikwissenschaft übertragen.

Jahrzehntelang dominierten die Union und die SPD die Landtags- und Bundestagswahlen der deutschen Nachkriegsdemokratie. So sehr, dass sie als „Volksparteien“ charakterisiert wurden. Die Sozialdemokrat:innen und die beiden Unionsparteien vereinigten regelmäßig einen Großteil der Wähler:innenstimmen auf sich.

Sozialmoralische Milieus bildeten lange Zeit das Elixier der Volksparteien

Zu Volksparteien waren CDU/CSU und SPD durch sozialmoralische Milieustrukturen gereift – bei den Unionsparteien wirkte das moralische Band der katholischen Kirche, bei der SPD eine im Geiste des solidarischen Proletariats durchorganisierte Basis und die Bindung zu den – gleichfalls starken – Gewerkschaften.

Aus dieser strukturellen, langanhaltenden Stärke erwuchs in den Volksparteien ein Selbstverständnis, das angesichts der kontinuierlich starken Wahlergebnisse zwar durchaus berechtigt war, das aber inzwischen – im Hinblick auf die Gesundheit der Demokratie – pathologisch geworden ist.

Denn spätestens seit den 1970er Jahren deutete sich die Erosion ebenjener Volksparteien an, bald schon verloren sie Mitglieder im numerischen Ausmaß ganzer Großstädte. Das Dreiparteien- wuchs zum Fünfparteiensystem an; dass der innere Zerfall der Volksparteien sich jedoch erst zaghaft in den Wahlergebnissen abzeichnete, verdeckte einige Zeit diesen Vorgang.

Als schließlich in den Nullerjahren die Erosion der alteingesessenen Volksparteien, der Union und der SPD, unübersehbar wurde und sie durch den Aufstieg der AfD auch elektoral, an den Wahlurnen, an Rückhalt in der Gesellschaft verloren, da insistierten sie nach wie vor auf dem Anspruch, weiterhin Volksparteien zu sein, ja sein zu müssen.

Politisch blieben sie daher auf die gesamte Gesellschaft ausgerichtet, die „Mitte“, wie es auch gerne hieß. Denn das entsprach ja ihrem althergebrachten Selbstverständnis: für die gesamte Gesellschaft wählbar zu sein, an Wahltagen eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter sich bringen zu können.

Die Milieuerosion zerstörte das Fundament der Volksparteien

Das allerdings beruhte auf der falschen Annahme, jemals auf Policy-Ebene, also inhaltlich bzw. programmatisch Volksparteien gewesen zu sein. Im Grunde genommen waren sie es nie so recht. Überspitzt gesagt, waren es Pfarrer und Gewerkschafter, welche die Menschen in ihrem moralischen und sozialen „Einzugsgebiet“ zur Wahl von CDU/CSU bzw. SPD anhielten.

Die Wahlerfolge von Volksparteien gründeten also auf einem starken Milieudruck – und als dieser nachließ, weil die Milieuautoritäten, die Geistlichen und die Funktionäre, im gesellschaftlichen Wandel ihren Einfluss auf nachwachsende, unabhängigere Generationen verloren, in diesem historischen Moment zerbröckelte auch allmählich das bis dahin betongleiche Fundament der Volksparteien.

Die SPD war zunächst eine Arbeiterpartei gewesen und hatte von der schieren Größe dieser Gesellschaftsgruppe profitiert; und davon, dass sie in diesem Segment über hochintegrative Organisationen verfügte, die ihre Wahlergebnisse sicherstellten. Als sie dann in den Sechzigern und verstärkt in den Siebzigern ein eher sozial-liberales Publikum ansprach, wurde sie noch immer auch stark von Arbeitern gewählt, weil ihre Organisationsstrukturen in diesem Gesellschaftsbereich weiterhin stark waren – aber die Bindung war nur noch schwach, jedenfalls lange nicht mehr unverbrüchlich.

Die Union hingegen war eher volksparteilich ausgerichtet, da sie über den Katholizismus schichtübergreifend integrierte, also analog zur Kirche unterschiedliche Gesellschaftsgruppen ansprach.

Als die Menschen irgendwann nicht mehr selbstverständlich einer Gewerkschaft beitraten oder in die Kirche gingen, da begannen die Strukturen, auf denen die Volksparteien fußten, zu schwinden – spätestens seit den 1970er Jahren.

Die Milieuerosion verstärkte erstmals die Bedeutung der Policy-Ebene

Eine extrem starke Positionierung hatten die Volksparteien indes weniger; sie profitierten hauptsächlich von festen und ergiebigen Strukturen, die über mehrere Jahrzehnte hinweg eine Art automatisierten Zustrom garantierten.

Als dann nach der Jahrtausendwende diese Strukturen beinahe aufgelöst waren, machte sich die in Wirklichkeit schwache Positionierung erstmals auch deutlich in den Wahlkabinen der Republik bemerkbar. Denn die erste Regel der Positionierung lautet: Wer jeden ansprechen will, erreicht am Ende niemanden – und das galt eben auch für die Volksparteien, die in ihrem Kern längst keine mehr waren.

Wie gut Positionierung in der Politik funktioniert, zeigten indes die Wahlergebnisse von PDS, später der LINKEN, der Grünen und der AfD. Und in bestimmten Phasen auch der FDP. Diese Parteien sprachen nur Teile der Gesellschaft, bestimmte Wähler:innensegmente an – und wenn sie sich besonders stark auf deren Belange konzentrierten, dann fuhren sie auch besonders gute Wahlergebnisse ein.

Die PDS war anfangs als Ex-SED- und Ostpartei positioniert (im Westen teilweise sogar stigmatisiert), zehrte also vom Ost-West-Denken und profitierte zudem von alten SED-Loyalitäten. Die LINKE stellte sich dann als Partei der Modernisierungsverlierer:innen auf, die Grünen als Ökopartei der Arrivierten, die AfD schließlich ebenfalls als Partei der Verlierer:innen modernisierter Strukturen und Normen.

All diese Kleinparteien richteten sich mit ihren politischen Forderungen, Positionen und ihrer Sprache so entschieden auf bestimmte Gruppen aus, dass sie diese mehrheitlich erreichten – freilich zum Preis der Abkehr oder Distanzierung von anderen.

Anders ausgedrückt: Wer deren Positionen vertrat, liebte sie; alle anderen wurden quasi gefiltert. Dadurch erreichten diese Parteien zwar immer nur einen Teil der Gesellschaft, diesen dafür aber umso intensiver und verlässlicher.

Die einstigen Volksparteien hingegen erreichten mit ihrer unentschlossenen Positionierung, ihren seichten, generischen Slogans zunehmend weniger Menschen oder frustrierten bestimmte Anhänger:innen mit Ideen und Konzepten, mit denen andere Gruppen gewonnen werden sollten – ein strapaziöser Spagat.

Mehr Positionierung im Politmarketing als Maßnahme zur Stabilisierung der Demokratie

Kurzum: Ohne intakte Strukturen, die für belastbare Loyalitäten sorgten, waren die Volksparteien unversehens auf ihre politische Positionierung zurückgeworfen – eine Veränderung, die sie kaum realisierten oder nicht akzeptierten. Durch den bedrohlichen Stärkezuwachs der AfD wird der Positionierungsmangel der Volksparteien nun erstmals zum demokratiegefährdenden Problem.

Aus einer Marketingsicht wäre der SPD und den Unionsparteien nun anzuraten, sich dringend eine „spitze“ Positionierung zuzulegen und in Form von Dreierkoalitionen zu regieren, statt der stark positionierten AfD das Feld zu überlassen.

Drastisch formuliert: Um die Demokratie zu bewahren, sollten Union und SPD den unrealistischen Volksparteianspruch endlich aufgeben und stattdessen gezielt zwar weniger Gruppen, diese aber dediziert und intensiv ansprechen, um deren Stimmenpotenzial voll ausschöpfen zu können; dadurch könnten dann drei oder vier Parteien so viele Stimmanteile gewinnen, dass sie in den Parlamenten gemeinsam verlässliche Mehrheiten im Rahmen systemstabilisierender Koalitionen organisieren können.