Indignez-Vous! (Empört Euch!) von Stéphane Hessel als politisches Manifest

Kurzbeschreibung 

Inwiefern handelt es sich bei Stéphane Hessels „Indignez-Vous!“ um ein politisches Manifest?

Das im Herbst 2010 erschienene Büchlein „Indignez-Vous!“ („Empört Euch!“) aus der Feder des ehemaligen französischen Diplomaten Stéphane Hessel (1917–2013) wurde binnen kurzer Zeit in mehreren Auflagen gedruckt und auch ins Deutsche übersetzt. Obwohl als Buch publiziert, lässt sich das Werk als politisches Manifest einordnen.

Denn das Buch weist einige Merkmale auf, charakteristisch für politische Manifeste sind. Zunächst beinhaltet das Buch eine starke Kritik am gegenwärtigen Zustand sowie eine Aufforderung zu alternativem Handeln, um die benannten Probleme zu beheben und Fehler zu korrigieren.

Die Kritik an diversen Punkten, die der Autor als Schwachstellen der französischen Gesellschaft empfand, implizierte jeweils den Aufruf zur Veränderung. Unter anderem warnte Hessel vor der Bedrohung der sozialen Errungenschaften, welche einst die Résistance gegen die NS-deutschen Besatzer erkämpft hatte; überdies kritisierte er die allumfassende Macht des Geldes, korrumpierte, klüngelnde Staatseliten und die hohe sowie noch immer wachsende soziale Ungleichheit. Darüber, so der Autor, müssten sich die Franzosen nun empören.

Hessels Kritik enthielt also die Aufforderung zur Veränderung, zur Alternative. Außerdem folgerte er aus seiner eigenen Biografie, dass Empörung der Ursprung sozialen und politischen Engagements sei. Er benannte klar und deutlich die Adressaten seiner Kritik: die gesellschaftlichen Eliten. Außerdem hatte sein Aufruf eine offensichtliche Zielgruppe: die Franzosen.

Der große Erfolg des Buches Hessel resultierte möglicherweise aus der Dimension von Hessels Kritik. In seinem Buch sprach er universelle Themen an, womit er große und breite Betroffenheit erzeugte – eigentlich gab es niemanden, der sich nicht angesprochen fühlen konnte.

Zudem spielt die Persönlichkeit des Manifestanten eine besondere Rolle. Da Hessel das Manifest allein verfasst hatte, fokussierte sich alle Aufmerksamkeit auf ihn. (Obwohl Alleinunterzeichner bei Manifesten eher unüblich sind.) Hessel als Person verkörperte diverse zentrale Merkmale seines Manifests. Als relativ bekannte Person des öffentlichen Lebens besaß er gute Beziehungen zu den Medien, sodass die Rezeption seines Buches beinahe gesichert war, bevor es erschien. Ganz besonders wichtig war aber, dass er als moralische Instanz auftreten konnte. Durch seinen Hintergrund als Résistance-Kämpfer, Mitverfasser der Menschenrechtserklärung und ehemaliger KZ-Häftling verfügte er über eine biografisch abgeleitete Autorität. Indem er die Gefährdung der Errungenschaften der Résistance kritisierte, trat er für etwas ein, für das er selbst gekämpft hatte. Sein Erfahrungshintergrund – er erlebte mehrere politische Systeme und mehrmals bewegte Zeiten – bescherte ihm hohe Glaubwürdigkeit.

Gleichzeitig fiel das Buch in eine Zeit, in der Frankreichs Gesellschaft in einer – schon seit Jahren diagnostizierten – Krise steckte. Die Franzosen waren laut Umfragen das pessimistischste Volk auf der Erde, jeder hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Hessel drückte schlicht aus, was viele dachten. Er deckte damit einen Bedarf nach Orientierung und Anleitung, taugte zum Idol, das Alternativen weisen konnte.

Auch die große Verfügbarkeit des Buches war ein wichtiger Aspekt. Indem in Bahnhofs- und Metrokiosken für lediglich drei Euro verkauft wurde, konnte es schnell von jedem konsumiert werden. Auch das praktische Format erlaubte ein Kaufverhalten ähnlich wie bei einer Zeitschrift. Existenz und Inhalte des Buches sprachen sich dadurch sehr rasch herum, ein starker Multiplikatoreffekt: Wer das Buch morgens in der Metro las, berichtete seinen Kollegen am Arbeitsplatz davon. Im Internet hingegen wäre es möglicherweise untergegangen. Und auf die Verbreitung über eine Zeitung – die Mühen, einen solchen Text dort platzieren zu können, die aufwändige Überzeugung der Herausgeber beispielsweise ­– war der Autor durch die Buchform ebenfalls nicht angewiesen.

Obwohl auf Frankreich gemünzt, besaß „Indignez-Vous!“ auch in anderen Ländern ein Erfolgspotenzial. Zum einen gab es durch den in Frankreich stattfindenden Diskurs eine Bewusstseinsschärfung, begünstigt auch durch den medialen Erfolg des Autoren. Zum anderen existierte auch in Deutschland ein großes Bedürfnis, das eigene Unbehagen zu artikulieren. Auch wenn nicht alle Symptome die gleichen sind, steckte die deutsche Gesellschaft ebenfalls in der Krise. Unkonventionelle Protestformen und Möglichkeiten zum Ausdruck wurden auch in Deutschland gesucht.

Stand: Februar 2011

Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells

Anhand einer Reihe von Porträts unternimmt dieser Band eine historische
Exkursion. Wie entstehen und funktionieren politische Manifeste?