Die Göttinger sind stolz auf Otto Hahn. Ein Otto-Hahn-Gymnasium, eine Otto-Hahn-Straße, ein Unternehmen namens „Otto Hahn Studios“ gibt es dort, die Universität führt ihn in ihrer 44 Persönlichkeiten zählenden Liste des „Göttinger Nobelpreiswunders“ auf.
Göttingen verbindet sich gerne mit Otto Hahn – wissenschaftlich hatte er mit der Stadt jedoch nichts zu tun
Dies ist verständlich, zählt doch Hahn zu den größten Kernphysikern der Geschichte: Er spürte etliche chemische Elemente auf, war der erste Präsident der Max-Planck-Gesellschaft – vor allem aber gründet sich sein Ruf auf die Entdeckung der Kernspaltung im Jahr 1938, für die er rückwirkend für das Jahr 1944 nach dem Zweiten Weltkrieg den Nobelpreis erhielt. In so gut wie jeder über Hahn verfassten Schrift lässt sich ehrerbietig nachlesen, dass er mit dieser revolutionären Beobachtung die Pforte zum Atomzeitalter aufgestoßen habe, für Viele daher als dessen „Vater“[1] gilt.
Dabei datiert keine einzige irgendwie bedeutsame Forschungsleistung aus seiner Zeit in Göttingen. Überhaupt hatte er bis 1945 nichts mit der südniedersächsischen Universitätsstadt zu tun. Der 1879 in Frankfurt am Main geborene Hahn studierte in Marburg und München Chemie, promovierte kurz darauf 1901 in Marburg, im Sommer 1907 habilitierte er sich in Berlin.[2]
In den 1920er Jahren avancierte er zum wissenschaftlichen Kopf des innerhalb von Fachkreisen weltbekannten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin-Dahlem. Befreit von universitären Lehrverpflichtungen und ausgestattet mit einem passablen Laboratorium betrieb der gründliche Experimentator in unmittelbarer Nachbarschaft zu Max Planck und Albert Einstein Weltspitzenforschung. Weniger Originalität als Akkuratesse und Durchhaltevermögen waren seine Stärken, mit denen er dem faszinierenden Atom etliche Geheimnisse entlockte.[3] 1928 avancierte er zum Direktor seiner Wirkungsstätte, die damals ein pulsierender Ort wissbegieriger Forscher war.
Die Entdeckung der Kernspaltung 1938 war das signifikante Ereignis in Otto Hahns wissenschaftlicher Karriere
1938 änderte sich für Hahn alles: Gemeinsam mit seinem Assistenten Fritz Straßmann spaltete er den Kern eines Uranatoms – damals ein Vorgang revolutionären Ausmaßes. Denn die Kernspaltung setzte Energie frei, was die Phantasie der Forscher beflügelte und ungeahnte Möglichkeiten verhieß. Dazu zählten sowohl ein Atomreaktor als auch eine Atombombe. Gerade letzteres war heikel, versprach diese doch ihrem Besitzer durch ihre schier unermessliche Zerstörungskraft grenzenlose Macht.
Dies bereitete Hahn Unbehagen:[4] In seinem Institut arbeiteten einige Wissenschaftler, die mit dem NS-Regime sympathisierten. Er selbst sah in der nationalsozialistischen Diktatur eine Gefahr für das Ansehen der deutschen Wissenschaft und befürchtete, dass die Machenschaften des Regimes seine Forschungsarbeiten beeinträchtigen könnten. Schließlich waren wichtige Köpfe rassistisch vertrieben worden, so seine geschätzte Kollegin Lise Meitner. Und unter keinen Umständen gedachte Hahn, einem Mann wie Adolf Hitler den Weg zur Atombombe zu weisen. Er wollte, dass sich die Welt mit den hilfreichen, nicht den destruktiven Potenzialen von Atomkraft befasste.
Doch Hahn konnte aufatmen: Die meisten der deutschen Kernphysiker gelangten um das Jahr 1940 zu dem Schluss, dass mit den begrenzten Ressourcen des Deutschen Reichs ein Atomwaffenprojekt schlichtweg nicht zu stemmen war. Sie konzentrierten ihre Forschungsanstrengungen daher auf die Konstruktion eines „Uranbrenners“, mit dem sie nukleare Energie zu erzeugen suchten. Sie erreichten, dass die Behörden dieses Unterfangen als kriegswichtige Arbeit einstuften und so viele Wissenschaftler vor dem Risiko des Soldatentods an den Fronten des Zweiten Weltkriegs bewahrt werden konnten.[5]
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte und wollte Otto Hahn die Atomforschung in der Bundesrepublik auf den zivilen Sektor beschränken
Nach dem Ende des Kriegs verbrachte ein Kommando der Alliierten Hahn und einige seiner Kollegen nach Farm Hall.[6] In dem englischen Provinznest bewohnten sie als faktische Gefangene komfortabel eine Villa, während ihre Angehörigen in der zerstörten Heimat den Widrigkeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit trotzen mussten. Dabei observierten alliierte Offiziere die Wissenschaftler heimlich, um an Informationen zum deutschen Atomprogramm zu gelangen.
1945 kehrte Hahn nach Deutschland zurück, die Briten quartierten ihn in Göttingen ein, dem intakt gebliebenen Standort einer altehrwürdigen Universität – die alliierten Bomben waren dort in den Kriegsjahren nur selten und sporadisch eingeschlagen.
Die Briten hatten mit Hahn ein Arrangement getroffen: Sie stellten der westdeutschen Wissenschaft in Aussicht, bald wieder Atomforschung betreiben zu können – denn diese untersagte das alliierte Besatzungsstatut zunächst noch.[7] Im Gegenzug sollte Hahn Gewissheit bieten, dass er und seine Kollegen unter keinen Umständen militärische Forschungsvorhaben verfolgen würden. Deswegen sollte er auch die im deutschen Wissenschaftsbereich mächtige Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die auf Druck der Alliierten kurzerhand in Max-Planck-Gesellschaft umgetauft wurde, als Präsident leiten. Die Zentrale dieser Wissenschaftsgroßorganisation nahm zusammen mit einigen ihrer Institute ihren Sitz in Göttingen.
Auf diese Weise, einem historischen Zufall geschuldet, stand Göttingen in den Anfangsjahren der Bonner Republik plötzlich im Mittelpunkt des Wissenschaftsmanagements. Von dort aus versuchten Hahn, auch der gleichfalls dort forschende Kernphysiker Werner Heisenberg, die Geschicke ihrer Profession zu lenken. Sein persönliches Anliegen, als ein Nestor der Nuklearwissenschaft für eine medizinisch und wirtschaftlich nützliche, keineswegs aber eine militärisch verwendbare Technologie verantwortlich zu zeichnen, und sein Bestreben, die deutsche Atomforschung nach dem Rückschlag infolge von Krieg und Nachkriegszeit wieder an die Weltspitze zurückzuführen, politisierten Hahn in jener Zeit.[8]
Wann immer sich die Gelegenheit bot, in Interviews, Vorträgen oder Schriften, betonte er die segensreichen Verheißungen atomarer Stoffe und verdammte die militärische Nutzung als waghalsigen Missbrauch durch Politiker und Generäle.[9] Auf der einen Seite standen die förderungswürdigen Aspekte des Atoms: heilsame Strahlenbehandlung des menschlichen Körpers, Stromerzeugung, möglicherweise sogar atomgetriebene Kraftfahrzeuge; auf der anderen fanden sich todbringende Atomsprengköpfe. Hahn nutzte seinen Prominentenstatus, den er als Nobelpreisträger genoss, um politische Appelle auszusenden. Von Göttingen aus schickte Hahn im April 1957 die von ihm und siebzehn seiner Kollegen unterzeichnete „Göttinger Erklärung“ an die Presse, welche die Bundesregierung mahnte, auf den Besitz eines eigenen Atomwaffenarsenals zu verzichten.
In Göttingen lebte während der 1950er und 1960er Jahre also nicht der wissenschaftliche, sondern stärker der politische Otto Hahn. Dort verstarb er auch, am 28. Juli 1968. Göttingen, wo er seinen Lebensabend verbrachte, und Frankfurt am Main, wo er zu Kaisers Zeiten das Licht der Welt erblickt hatte, identifizieren sich beide mit der Persönlichkeit Otto Hahn. Denn auch die südhessische Metropole wartet mit dem Standardrepertoire stolzer Erinnerung auf: eine Otto-Hahn-Schule, ein Otto-Hahn-Platz, ein Otto-Hahn-Preis der Stadt.
Dieser Text erschien in leicht veränderter Fassung zuerst in dem Band „Göttinger Köpfe und ihr Wirken in die Welt“ (Göttingen 2012, Vandenhoeck & Ruprecht, herausgegeben von Stine Marg und Franz Walter).
Anmerkungen
[1] Siehe z.B. Feulner, Georg et al.: Naturwissenschaften. Daten, Fakten, Ereignisse und Personen, München 2008, S. 206; Hoffmann, Dieter: Im Schatten des Kollegen, in: Die Zeit, 21.06.1996.
[2] Zum Werdegang vgl. Berninger, Ernst H.: Otto Hahn in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 7, S. 17 u. S. 44; Hoffmann, Klaus: Forschung und Verantwortung. Otto Hahn. Konflikte eines Wissenschaftlers, Frankfurt am Main 2005, S. 25 f. u. S. 55 f.
[3] Vgl. Berninger 1974, S. 15 u. S. 50; Hoffmann 2005, S. 96; Meitner, Lise: Zur Entwicklung der Radiochemie. Otto Hahn zum 50jährigen Doktor-Jubiläum, in: Angewandte Chemie, Jg. 64 (1952) H. 1, S. 1-4.
[4] Vgl. hier und folgend Sime, Ruth Lewin: Otto Hahn und die Max-Planck-Gesellschaft. Zwischen Vergangenheit und Erinnerung, Berlin 2004, S. 23-28; Weizsäcker, Carl Friedrich von: Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung, München/Wien 1976, S. 203.
[5] Vgl. Hermann, Armin: Wie die Wissenschaft ihre Unschuld verlor. Macht und Mißbrauch der Forscher, Stuttgart 1982, S. 191; Müller, Wolfgang D.: Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, S. 553.
[6] Zu den Vorgängen dort vgl. Hoffmann, Dieter (Hg.): Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder Die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993.
[7] Vgl. dazu Oexle, Otto Gerhard: Hahn, Heisenberg und die anderen. Anmerkungen zu ‚Kopenhagen‘, ‚Farm Hall‘ und ‚Göttingen‘, Berlin 2003, S. 30-34; Stamm, Thomas: Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945-1965, Köln 1981, S. 57 ff.
[8] Vgl. Hentschel, Klaus: Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit
(1945-1949), Heidelberg 2005, S. 167; Lorenz, Robert: Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011, S. 177 ff. u. S. 329 ff.
[9] Siehe beispielhaft Hahn, Otto: Cobalt 60. Gefahr oder Segen für die Menschheit?, Göttingen 1955; ders.: Zur Geschichte der Uranspaltung und den aus dieser Entwicklung entspringenden Konsequenzen, in: Die Naturwissenschaften, Jg. 46 (1959) H. 5, S. 158-163.