Die Mainauer Kundgebung 1955Ein politisches Manifest von der Blumeninsel gegen Atomwaffen

Fotografie der von 18 Nobelpreisträgern unterzeichneten Mainauer Kundgebung vom 15. Juli 1955.

Nur zwei Jahre und wenige Worte lagen zwischen der Göttinger Erklärung von 1957 und der Mainauer Kundgebung von 1955. Und doch sind die Unterschiede enorm – denn während Erstere in der Bundesrepublik ein kleines politisches Erdbeben auslöste, blieb Letztere nahezu unbeachtet. Stürzte das eine politische Manifest die Bundesregierung in eine öffentliche Krise, verblieb das andere eine historische Fußnote. Wie war das möglich?

Zunächst: Die Mainauer Kundgebung steht bis heute im geschichtlichen Schatten der Göttinger Erklärung – dabei forderten beide Appelle in etwa das Gleiche: atomare Abrüstung, den schleunigen Verzicht auf Nuklearwaffenarsenale. Diese existierten damals überhaupt erst seit knapp zehn Jahren, nachdem die USA im Zweiten Weltkrieg die Atombombe entwickelt hatten und die Sowjetunion kurze Zeit später nachgezogen war.

Die Göttinger Erklärung, im April 1957 verfasst von 18 deutschen Kernphysikern, gilt als ein außergewöhnliches Einschreiten von Wissenschaftlern, als verantwortungsvoller Eingriff in den politischen Entscheidungsprozess, und wird bis heute schlechterdings als das Parade- und Pioniermanifest naturwissenschaftlicher Forscher geachtet. Mit ihr verbindet sich der Beginn einer neuen Gewissenhaftigkeit, die Forscher dazu verleitet, einer Verantwortung für die – politisch reglementierbare – technische Anwendung ihrer Erkenntnisse nachzukommen.

Doch ist dies zu relativieren, denn die Aktion der „Göttinger Achtzehn“ hatte in der Erklärung von der Mainau ein Vorgängermanifest, war also weniger originell denn epigonal, mehr intellektueller Abkömmling einer vorangegangenen Aktion als Novum. Insofern gebührt der Mainauer Kundgebung ein historischer Respekt, den ihr die Geschichtsschreibung allzu oft vorenthält.

Denn bereits am 15. Juli 1955 – ziemlich genau zwei Jahre vor der Göttinger Erklärung – hatten 18 Nobelpreisträger in einer „Kundgebung“ von der malerischen Blumeninsel im Bodensee, ihrem Tagungsort, an die Strategen der Weltpolitik appelliert, sich doch endlich der besonderen und vor allem wachsenden Gefahr atomaren Kriegsgeräts bewusst zu werden.[1] Die „Mainauer Kundgebung“ getaufte Eingabe an die Politik folgte übrigens den gleichen Prinzipien, die später auch dem Göttinger Manifest zugrunde liegen sollten: Eine stattliche Anzahl honoriger Persönlichkeiten richtet im öffentlich zugänglichen Raum eine konkrete Aufforderung an die Politik, der qua Expertenstatus eine besondere Legitimation und Ernsthaftigkeit innewohnt.

Vor allem aber war das Mainauer Manifest von wesentlichen Akteuren der späteren Göttinger Erklärung erdacht, organisiert und getragen worden.[2] Die Idee für eine Nobelpreisträgerkundgebung stammte allem Anschein nach von Max Born, der sie wiederum Otto Hahn vorschlug.[3] Die beiden längst nicht mehr wissenschaftlich aktiven Professoren waren nichts weniger als zwei Grandseigneurs der deutschen Wissenschaftsprominenz – und sie gedachten, die Politik vermittels einer politischen Manifestation mithilfe der Öffentlichkeit unter Druck zu setzen. Ein „‚Massenangriff‘ einer großen Zahl führender Physiker, Chemiker, Physiologen etc.“[4] schwebte ihnen vor.

Born und Hahn traten dabei zusammen mit Werner Heisenberg als die drei prominentesten deutschen Kernphysiker, die zugleich einen Nobelpreistitel trugen, gegenüber ihren in- und ausländischen Kollegen als die Initiatoren des Aufrufs auf. Der nobelpreislose Carl Friedrich von Weizsäcker, ebenfalls Kernphysiker, Schüler und enger Freund Heisenbergs, agierte seinerzeit zurückgezogen im Hintergrund und war wohl insgeheim der Autor der finalen Textversion.[5]

Im Unterschied zur zwei Jahre später erfolgten Göttinger Erklärung war „Mainau“ ein internationales, über den westdeutschen Kontext hinausreichendes Unterfangen. Die unterzeichnenden Manifestanten waren unterschiedlicher Nationalität, der Appell nicht an eine bestimmte Regierung adressiert, zudem polyglott in deutscher, englischer, französischer und russischer Sprache verfasst. Inhaltlich unterschied er sich obendrein nur geringfügig von dem 1957er Manifest: Er warnte vor den Gefahren eines Atomkriegs, die anscheinend nicht ausreichend bekannt seien und zudem sämtliche Nationen beträfen, da der atomare Verseuchungstod unterschiedslos Neutrale wie Kriegführende treffen würde; er schloss mit der leicht pathetischen Forderung, im Zeitalter der Atom- und Wasserstoffbombe müssten alle Nationen „zu der Entscheidung kommen, freiwillig auf die Gewalt als letztes Mittel der Politik zu verzichten“, ansonsten würden sie „aufhören, zu existieren“.

Mit Blick auf die ungleich größere Prominenz der Unterzeichner – allesamt durch den Nobelpreis mit den höchsten wissenschaftlichen Würden ausgezeichnete Autoritäten – wäre die größere öffentliche Wucht eigentlich von der Mainauer Kundgebung, nicht von der im Vergleich eher provinziellen Göttinger Schrift zu erwarten gewesen.

Doch über „Mainau“ verliert im historischen Rückblick meist niemand ein Wort, wohingegen die Göttinger Erklärung häufig Erwähnung und Lobpreisungen erfährt, sich insofern als das Manifest der Anti-Atomwaffenfraktion im kollektiven Gedächtnis eingebrannt hat. Auch v. Weizsäcker und Hahn stuften die Wirkung der Mainauer Kundgebung erkennbar enttäuscht als gering ein.[6]

Zwar erreichten die 1955er Manifestanten einige postalische Sympathiebekundungen, doch politische Konsequenzen, schon gar nicht den erwünschten Nuklearwaffenbann, zeitigte ihre Aktion bemerkenswerterweise keine. Das Resultat war ernüchternd: Dutzende Wissenschaftler hatten ein Zeichen gesetzt – und die Regierungen ignorierten es.

Damit stellt sich die Frage, weshalb ein inhaltlich beinahe identischer Text, noch dazu von einer weitaus spektakuläreren Ansammlung von Personen unterzeichnet, in einer gleichwertig riskanten Situation auf eine ganz und gar andere Resonanz stieß.

Das allerdings ist die Geschichte der Göttinger Erklärung, zu der die Mainauer Kundgebung ein kleines, indes nicht unbedeutendes Kapitel beigetragen hat.

Teile dieses Textes erschienen zuerst in Lorenz, Robert: Protest der Physiker. Die Göttinger Erklärung von 1957, Bielefeld 2011 (transcript).

Fußnoten

[1] Die Mainauer Kundgebung ist als Faksimile abgedruckt in: Kraus, Elisabeth: Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung. Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und die Verantwortung des Wissenschaftlers, Würzburg 2001, S. 162; die Unterschriftenliste erstreckte sich mit der Zeit auf mehr als fünfzig Nobelpreisträger.

[2] Vgl. hierzu ebd., S. 159–165.

[3] Vgl. zu diesem Abschnitt ebd., S. 167 f.

[4] Zitiert nach Kant, Horst: Otto Hahn and the Declarations of Mainau and Göttingen, als enthaltenes Werk in: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Preprint 203, Berlin 2002, S. 21–40, hier S. 27.

[5] Vgl. ebd., S. 27 f.

[6] Vgl. Kraus 2001, S. 164; o.V.: Die Göttinger Luft, in: Die Zeit, 09.05.1957; Weizsäcker, Carl Friedrich v.: Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945–1981, München 1984, S. 34.